Sonntag, 28. November 2010


Jetzt ist es ja doch schon wieder ein Weilchen her, dass ich ordentlich Bericht erstattet habe, wie die Dinge hier in Brasilien, am anderen Ende der Welt, so laufen.
Seit fast 6 Wochen lebe ich nun schon in dem Land, in dem es (bisher) jeden Tag Reis mit Bohnen gab; in dem Reich und Arm unmittelbar nebeneinander wohnen, in dem die Zebrastreifen höchstens als Dekor dienen, in denen Zahnarztpraxen und andere Ärzte mit bunten Plakaten werben (die mich persönlich eher dazu bewegen würden, mir selbst einen Zahn zu ziehen…), in dem der Wahlkampf eher an Karnevalszüge erinnert, in dem es eine Faustregel zu geben scheint „ Kaufe als Frau zu kleine Kleidung und zu hohe Schuhe“, in dem man es als „loira“ (Blonde) trotz aller Bemühungen nicht schafft, nicht aufzufallen, aber in dem Herzlichkeit an erster Stelle steht.
Zusammen mit meiner Projektpartnerin und Freundin Tirza habe ich schon einige ätzende und anstrengende Arbeitstage hinter mich gebracht, welche uns dazu veranlassten, uns auf Deutsch über ebendiese sowie aufdringliche Männer auszulassen. Mittlerweile haben wir uns daran gewöhnt, auf dem Weg zur Arbeit von jedem dritten Mann angestarrt/angehupt oder angesprochen zu werden und auch die Unzuverlässigkeit als auch die lockere Art damit umzugehen gehören für uns schon voll und ganz dazu. Ganz nach dem Motto „Was du heute kannst besorgen, schaffst du locker auch noch morgen (und nächste Woche ist ja auch noch Zeit…)“ verleben wir unsere (Arbeits-)Tage im Cantinho do Girassol ohne Arbeitsplan, mit einem Haufen nicht zu bändigender Kinder, die sich aus verschiedensten Gründen gerne mal die Köpfe einschlagen und einigen „tias“, welche all ihre Energie in die Verschönerung des Raumes (Bastelarbeiten) anstatt in die Kinder investieren. 
Auch, dass jede „tia“, und somit auch wir, bei der Essensausgabe ein Haarnetz tragen muss, das Essen aber z.T. mit der Hand ausgeteilt wird und die Kinder sich manchmal noch nicht weggeräumte Essensreste des Vortags vom Boden kratzen und genussvoll verspeisen, gehört für uns schon genauso zum Alltag, wie das Busfahren ohne Fahrplan oder die Männer, die sich auch bei voller Fahrt auf dem Motorrad nach uns umdrehen (wir sind gespannt, wann der erste gegen einen Laternenpfahl donnern wird…). Bisher arbeiten wir im Cantinho do Girassol mit Kindern zwischen 0-3 Jahren. Tirza und ich gehen mittlerweile in verschiedene Gruppen, um zu vermeiden, zu viel Deutsch zu sprechen. Morgens verlassen wir gegen 20 nach 7 das Haus und kommen dann zwischen viertel vor 8 und halb 9 auf der Arbeit an (je nachdem wie viel Glück man gerade mit den Bussen hat…). Bis meistens 16 Uhr (wenn wir Fußballtraining haben, gehen wir früher) helfen wir dann Essen auszuteilen, Windeln zu wechseln, Konflikte zu Lösen, Nasen zu putzen, Kinder zum Einschlafen zu bewegen, zu singen, Kinder zu waschen, anzuziehen etc. etc. Nichts, was wir noch nicht gemacht hätten. Wenn wir dann nach 8 Stunden die Heimreise antreten, haben wir uns immer einige Stories zu erzählen, sind total k.o., unsere Hosen voller Kinderrotze und Staub und wir dann froh, zu Hause anzukommen und erst mal einen Kaffee zu trinken, Gitarre zu spielen, Obst zu essen oder uns einfach nur mit den netten Mitarbeitern des Casa da Esperança austauschen können. Trotzdem ist es auch immer wieder erfüllend, die Kinder lachen zu sehen. Da die „tias“ sich ja oftmals keine Zeit nehmen können oder z.T. auch nicht wollen und den Aufwand möglichst gering halten wollen (obwohl das Wetter super ist, waren wir bisher erst EINMAL draußen…), freuen sich die Kinder unheimlich, wenn eine „tia“ mal Zeit hat, sie auf den Arm zu nehmen, mit ihnen zu Kuscheln, mit ihnen Lieder zu singen, ihnen etwas vorzulesen oder einfach nur mal zuzuhören, wenn gerade Mama oder Papa vermisst werden.
Wir genießen es, uns mit den Einheimischen austauschen zu können und hier im Casa da Esperança 2 bis 3 mal die Woche mit einigen Mädels Fußball spielen zu können. Im Cantinho do Girassol können wir zweimal die Woche Capoeira machen, was vor allem mich total freut. Obwohl wir manchmal echt kaputt sind, wenn wir abends in Bett fallen, sind wir froh, dass wir das alles um uns haben. Die unzähligen neuen Erfahrungen, Eindrücke, die schreienden Kinder, der Weg zur Arbeit, die abwechslungsreichen Wochenenden, Capoeira, die Menschen des Casa da Esperança und die völlig andere Kultur erfüllen mich, lassen mich staunen, machen mir Mut, nerven ab und zu, tragen erheblich zur Erweiterung meiner Toleranzgrenze bei und bewirken jedoch vor allem ein Gefühl der Zufriedenheit mit meiner Entscheidung ein weiteres Jahr ins Ausland zu gehen. Ich fühle mich sehr wohl hier und bin schon total gespannt, was noch alles auf mich zukommt.
Ps: Noch ein kleines „Wahlkampf – Special“, um einen kleinen Einblick gewinnen zu können…
Schon morgens um 7 Uhr stehen Jugendliche, Kinder, Frauen und z.T. auch Männer mit Fahnen verschiedenster Parteien am Straßenrand und behindern den Verkehr. Nicht nur, dass das ganze eher wie die letzte Runde eines Formel1 Rennens wirkt, auch möchte ich behaupten, dass nicht einmal die Hälfte der dort werbenden einen blassen Schimmer haben, welches Wahlprogramm sich da eigentlich hinter der Partei mit den ominösen Flaggen verbirgt. Ansonsten begegnet man noch zahlreichen maskottchenähnlichen Figuren, die eingehüllt in riiiiiiesigen Plastikanzügen durch die Straßen ziehen und den jeweiligen Kandidaten darstellen (natürlich ist auch die Partei und Wahlnummer nochmal ganz dick aufgedruckt!) Die Plakate der Kandidaten sehen aus, als ob sie für ein Callcenter oder für irgendein unseriöses Unternehmen entworfen seien. Keinstenfalls würde man damit jedoch die anstehenden Wahlen verbinden. Ich habe noch kein einziges Plakat gesehen, auf dem auch nur ansatzweise Inhalte eines Wahlprogramms erkennbar gewesen wären. Es sind immer nur die völlig unauthentisch lachenden Kandidaten und die entsprechenden Wahlnummern zu sehen. Als ob das noch nicht genug wäre, ziehen ganze Autokarawanen durch die Straßen, gepflastert mit den Plakaten ihres Kandidaten und spielen noch dazu ein paar eigens für die Wahl eingespielter Lieder in unüberhörbarer Lautstärke ab… Zu ganz netten Rhythmen fährt man dann auch gerne mal durch die ärmsten Viertel und spielt Lieder, in denen Bildung, eine gute Erziehung für jedes Kind und eine Verbesserung der Gesamtsitutation versprochen werden - ziemlich krass... Soweit zu den anstehenden Wahlen… Ich bin unheimlich gespannt, wie es ausgehen wird (Gewählt wird am 3. Oktober).
PPs: Vor 2 Tagen habe ich mir spontan eine Gitarre gekauft, sodass ich nach der Arbeit / nach dem Training bei 25 Grad draußen auf der Gartenbank singend den Tag ausklingen lassen kann…

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