Sonntag, 19. Dezember 2010

Brasília - 50 Jahre Hauptstadt im Nichts


Skizze des "Plano Piloto"

Seit vier Monaten lebe ich nun schon in einer der (soweit ich es auf Grund meiner bisherigen Erfahrungen beurteilen kann) merkwürdigsten (Haupt)städte der Welt, bzw. in einer ihrer 17 Satellitenstädte.
Die von Architekt Oscar Niemeyer geplante Retortenstadt wurde im April diesen Jahres gerade einmal 50 Jahre alt, hat 2,5 Millionen (incl. Satellitenstädte, im Stadtkern nur etwas mehr als 200.000) Einwohner, auf die 1,2 Millionen Autos kommen. Diese absolut erschreckende Zahl erklärte sich mir bereits nach meinem ersten „Besuch“ des „Plano Piloto“, dem Stadtzentrum. Es gibt zwar eine Metro, welche das Stadtzentrum mit 5 Satellitenstädten verbindet, allerdings ist deren Endstation die Rodoviária, welche recht mittig gelegen zwar ein guter Ausgangspunkt ist, jedoch nicht unbedingt nah an den verschiedenen Hauptpunkten liegt. Neben der Metro existiert ein mehr oder minder gut ausgebautes, jedoch recht unübersichtliches Bussystem, welches neben dem Auto die einzige Fortbewegungsmöglichkeit stellt. Fußgänger- oder Fahrradwege sind in der gesamten Innenstadt kaum bis gar nicht vorzufinden, dementsprechend sieht man kaum Menschen auf den Straßen, sodass die Stadt für mich eher einer Dauerausstellung modernen/futuristischer Architektur gleicht. 
Blick auf den Plano in 75m Höhe (TV Tower)

Feira Artesanal

Verantwortlich dafür ist jedoch auch oder vor allem der beängstigende Mangel an kulturellen Treffpunkten in der Innenstadt. Zwischen dem Juscelino Kubitschek Denkmal (ungefähr auf Höhe des Flugzeughecks) und dem Nationalkongress (Cockpit des „Flugzeugs“), sprich auf ca. 7km finden sich weder Bars noch Restaurants. Lediglich außerhalb des Planos liegen ein zwei Straßenzüge, in denen sich ein Restaurant an das andere drängt. Desweiteren gibt es noch zwei Shoppingcentren, welche sich allerdings ebenfalls außerhalb des eigentlichen „Flugzeugs“ befinden.
Nach meinen zahlreichen Streifzügen durch die Stadt, habe ich als einzigen wirklichen kulturellen Treffpunkt (an dem sämtliche gesellschaftliche Schichten vertreten sind) die „Feira Artesanal“ (Kunsthandwerkermarkt), welcher zu Füßen des TV Towers (ca. Flugzeugmitte) liegt, ausgemacht.
Immerhin kann letzterer, sowie auch der Nationalkongress, das Außenministerium, das Museu Nacional und die Catedral Metropolitana kostenlos besichtigt werden. 
Congresso Nacional

Catredral Metropolitana

Museu Nacional
 
Neben dem augenscheinlichen Mangel an kulturellen Treffpunkten, erschrecken die absolut unverschämt hohen Miet- bzw. Kaufpreise, welchen denen in Miami entsprechen. Die Ursache hierfür liegt nicht etwa in der Attraktivität dieser Wohngegend (die meisten Einwohner bewohnen in den „Flugzeugflügeln“ eintönige und triste Plattenbauten), sondern darin, dass fast ausschließlich Beamte das Stadtzentrum bewohnen. Seit der Fertigstellung der Stadt, deren Idee unter anderem die Ansiedlung von Arbeitern innerhalb der Stadt war, sind sämtliche Arbeiter aus der Stadt verschwunden und bewohnen die Satellitenstädte. Trotzdem werden sie natürlich auch für den reibungslosen Ablauf in der Innenstadt benötigt, denn auch Ministerien, Konsulate und dergleichen wollen gereinigt und instand gehalten werden. Resultat dieser Verteilung ist ein unvorstellbarer Pendelverkehr, welcher tagtäglich für viel Stau und verstopfte Straßen sorgt. Um entgegenzuwirken werden zur „Rush Hour“ morgens und nachmittags alle 6 Spuren der Estrutural (eine der Hauptstraßen, welche einige Satellitenstädte mit dem Plano verbindet – normal 3spurig in beide Richtungen) jeweils nur in eine Richtung befahren. (morgens dementsprechend Richtung Plano und nachmittags Richtung Satellitenstädte).
Arbeiterdenkmal
 
Der erste Gedanke, welchen man mit der „Arbeiterarmut“ innerhalb der eigentlichen Stadt verbindet, mag schlichtweg sein, dass das ständige Pendeln umständlich und unpraktisch ist. Oftmals wird die Situation auch genauso von den zahlreichen Beamten der Stadt beurteilt. Betrachtet man die Situation der zahlreichen pendelnden Arbeiter bzw. die der Satellitenstadtbewohner jedoch genauer, so wird klar, dass die Situation mehr als unpraktisch oder umständlich ist – sie ist gnadenlos unfair und unverhältnismäßig!
Innerhalb der Satellitenstädte wird ein völlig anderes Leben geführt, welches nichts mit dem innerhalb der Stadt zu tun hat. Es gibt unzählige Obdachlose, Arbeitslose, Drogenabhängige und nicht zuletzt Kriminalität. Natürlich ist die Situation innerhalb der verschiedenen Satellitenstädte auf Grund deren unterschiedlicher Faktoren (Größe, Einwohnerzahl, Entfernung zum Plano etc.) auch sehr verschieden.
Ich wohne in Ceilândia, eine der Satellitenstädte, deren Entwicklung in den letzten 5 Jahren erheblich vorangegangen ist.



auf dem Weg zur Arbeit: Ceilândia Norte




In den meisten Stadtteilen gibt es mittlerweile geteerte Straßen und zumindest soweit ich es beurteilen kann auch relativ (!) viele soziale Einrichtungen (hauptsächlich Kindergärten). Auf den ersten Blick geht es den meisten Familien vielleicht sogar gar nicht so schlecht. Erst nachdem ich einige Freunde und Bekannte hier besucht habe, ist mir aufgefallen, wie schlecht sich die Situation eigentlich einschätzen lässt. Einige Familien besitzen zwar ein (von Außen verhältnismäßig) ganz ansehnliches Häuschen, teilweise sogar ein Auto, aber oftmals fehlt es an essentiellen Dingen, wie einer Dusche oder einer funktionstüchtigen Toilette.
Neulich war ich bei einer Freundin zu Besuch. Auf Grund ihres Kleidungsstils und ihrer „Ausstattung“ (Handy, Mp3Player etc.) hatte ich mir unterbewusst ein Bild von einer mittelmäßig bis gut ausgestatteten Wohnung gemacht. Als ich ins Badezimmer ging, ein fensterloser Raum, dessen Boden und Wände aus Lehm bestanden, war ich wirklich geschockt. Natürlich sind es nur viele einzelne Eindrücke, ein kleiner Ausschnitt aus dem Leben hier, welche sich nach diesen ersten vier Monaten hier zusammenfügen, dennoch ausreichend, um festzustellen, dass eines der Hauptziele in der Planung dieser Stadt, einen gemeinsamen Lebensraum für verschiedenste gesellschaftliche Schichten zu schaffen, mit Sicherheit nicht umgesetzt worden ist. Aber auch die anderen Ziele und Hoffnungen, welche man mit der Verlagerung der Hauptstadt ins Land des Inneren (welche schon seit 1823 als Idee bestand) verfolgte, konnten bis heute nur teilweise umgesetzt werden.
Auch wenn mich fast jeder, dem ich inner- und außerhalb Brasílias bzw. Ceilândias bisher begegnet bin bemitleidet („Du Arme. Was machen du und Tirza nur hier? Kein Meer, keine Seen, wenig Kultur…“) bin ich froh, hier in Brasília bzw. Ceilândia „gelandet zu sein“. Ich finde es spannend, die Lage, die Menschen, die Kultur und das (brasilianische) Leben hier völlig unvoreingenommen kennenlernen zu können, da das Internet (in dem man heutzutage doch scheinbar alles nachlesen kann) ausnahmsweise mal keine Materialien hergibt (zumindest nichts über Ceilândia)...

1 Kommentar:

  1. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,690333,00.html - noch ein paar Hintergrundinfos...

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