Sonntag, 13. Februar 2011

2. Rundbrief

Liebe UnterstützerInnen, liebe Freunde,
liebe Interessierte,

tatsächlich, drei weitere Monate sind um, d.h. zum einen Halbzeit in Brasilien und zum anderen: mein zweiter Rundbrief steht an. Etwas verspätet soll es diesmal um das Land, die Kultur, Politik und Religion gehen. Gar nicht so einfach das alles auf vier Seiten zu behandeln. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen werde ich versuchen euch anhand einiger Beispiele und meinen bisherigen Erfahrungen einen Überblick bzw. einige Einblicke in „mein brasilianisches Leben“ zu geben.

Brasilien: 8.5 Mio. km² (das 24-fache! Deutschlands), größtes südamerikanisches Land, 26 Bundesstaaten (plus Distrito Federal) und 191 Mio. „brasileiros“. Bereits diese groben Rahmendaten lassen die Vielfältigkeit des Landes erahnen. Sicherlich kommen diese Zahlen einigen von euch bereits bekannt vor und auch ich hatte sie mir natürlich schon vor meinem Auslandsjahr verinnerlicht. Greifbar wurden sie allerdings erst im Verlauf der letzten sechs Monate.
Ich kann mich in Brasília in einen Bus setzen und egal in welche Richtung ich 24 Stunden lang fahre – ich bin noch immer in Brasilien. Auch wenn die Lebensweise, die Landschaft oder die Mentalität der Menschen in Salvador, Rio de Janeiro oder Porto Alegre sich in vielen Punkten massiv von der Brasílias unterscheiden, trifft man doch immer auf „brasileiros“, verständigt sich (gestenreich) auf Portugiesisch und bekommt auch überall „arroz e feijão“ (Reis mit Bohnen).
Kurzum: trotz der unbegreiflichen Größe, der einzigartigen kulturellen und geografischen Vielfalt, gibt es gewisse „typisch brasilianische“ Aspekte, welche sich einfach nicht von der Hand weisen lassen.


„E aí – tudo bem???“
Es fängt bei Banalitäten, wie zum Beispiel der Begrüßung an. Egal, wo in Brasilien ich mich bisher aufgehalten habe, ob Satelliten- oder Hauptstadt, ob Nord ob Süd – für eine Begrüßung nimmt sich jeder „brasileiro“ und jede „brasileira“ Zeit.
Man erkundigt sich, unabhängig davon ob man sich schon lange kennt oder gerade zum ersten Mal miteinander spricht, grundsätzlich als erstes nach dem Wohlergehen des Gegenübers.
Was mir zunächst als außergewöhnlich höflich auffiel (wie oft erkundigen wir uns denn in Deutschland bei einem hektischen Einkauf nach dem Wohlergehen des Kassierers?) erscheint mir mittlerweile eher ziemlich oberflächlich. Natürlich habe ich mich bereits daran gewöhnt, so gut wie jeden, dem ich auf der Arbeit begegne das obligatorische „Tudo bem?“ (Alles klar?) zu fragen. Allerdings ist die Antwort, so scheint es mir, ebenfalls obligatorisch, unzwar „Tudo“ (Alles!). Obwohl oftmals noch weitere Fragen wie „Tá joia? / Beleza?“ ( wörtl. „Ist es eine Freude? / Schönheit?“ ≈ „Alles klar?“) folgen, besteht die Antwort zu 99% in einer positiven Bejahung – unabhängig von der eigentlichen Verfassung. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle aber nicht vorschnell (ver)urteilen, denn besser als keine Begrüßung ist dieses brasilianische Ritual ja allemal. (Außerdem schließt es desweiteren ja eine ehrlliche bzw. ausführlichere Antwort unter Freunden nicht aus...).

Einkaufen auf brasilianisch
Den in Deutschland zumeist ungeliebten Einkauf, empfinde ich hier in Brasilien oftmals als eine besondere Form der Unterhaltung. Bereits beim Eintreten in einen brasilianischen Supermarkt, fällt mir als Europäerin die Fülle der angestellten Arbeitskräfte auf. Ist man es doch aus Deutschland gewohnt, dass man ausgerechnet dann, wenn man mal die Hilfe eines Mitarbeiters in Anspruch nehmen möchte, erst einmal sämtliche Regalreihen durchstreifen muss, um einen aufzutun, kann man sich hier vor Angestellten kaum retten.
Beschäftigt scheinen neben den Kassierern selbst jedoch lediglich jene zu sein, die an der Kasse als „Verpacker“ tätig sind und scheinbar nach der Anzahl der verbrauchten Tüten bezahlt werden. So kommt es nicht selten vor, dass ich den Supermarkt mit 10 Tüten verlasse, in die jeweils maximal zwei Artikel eingetütet sind.
Diejenigen, die nicht in den Genuss kommen, den Kunden nach seinem Einkauf unzählige Tüten in die Hand zu drücken, versuchen meist, die zum Verkauf stehende Ware per Mikrofon oder auch im persönlichen Gespräch anzupreisen. So bin ich zwar auch nach dem „brasilianischen Einkauf“ wieder froh, zu Hause anzukommen, verlasse den Supermarkt jedoch zumeist mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Vamos almoçar“ (Lass uns Mittagessen gehen) oder auch: Es gibt Reis mit Bohnen
Wenn mich so fast täglich einer meiner Kollegen auffordert die Mittagspause gemeinsam mit dem Essen einzuläuten, sieht das Ganze etwas anders aus, als man es aus Deutschland gewohnt ist. Im Mittelpunkt steht weder die Frage, was es wohl heute geben mag, noch, ob es denn wohl schon wieder das Gleiche wie gestern geben könnte – nein, denn jeder weiß: Es gibt arroz e feijão (Reis und Bohnen) – UND, das muss man fairerweise sagen, an und an auch mal Fleisch uns fast immer Salat. Viel erstaunlicher als die Tatsache, dass es in den sechs Monaten in denen ich hier bin (und mit Sicherheit auch in denen davor (und auch in denen davor...)) bisher jeden Tag arroz e feijão gab, ist es, dass sich niemals darüber beschwert wird. Im Gegenteil: JEDER freut sich auf das Mittagessen. Man(n) ist hierzulande sogar eher froh darüber, dass es nichts anderes gibt. Wenn Tirza oder ich immer mal wieder auf die deutschen Essgewohnheiten/ typische Gerichte angesprochen werden, löst es oft Erschrecken aus, wenn wir verkünden, dass es das hiesige Nationalgericht im Grunde (zumindest in dieser Form) nicht gibt und es noch dazu kein anderes Gericht gibt, welches täglich serviert wird. Glücklicherweise sind Reis und Bohnen hier auch mit Abstand die preiswertesten Lebensmittel, sodass zumeist auch relativ armen Familien immerhin dieser „Luxus“ erhalten bleibt.

„Glaubst du an Gott?“
Mit jener Frage, welche in Deutschland eher Inhalt eines persönlichen Gesprächs wäre, wurde ich bereits an meinem zweiten Arbeitstag konfrontiert. Glaube hat hier einen völlig anderen (gesellschaftlichen) Stellenwert als ich es von zu Hause/aus Deutschland kenne. Zwar bleibt die Ausübung und die Wahl der Kirche (natürlich bzw. Gott sei Dank) jedem selbst überlassen, dennoch möchte ich schon fast sagen, dass es hier ein Stigma ist, nicht gläubig zu sein / nicht irgendeiner Kirche anzugehören. Der Großteil meiner Mitarbeiter und Bekannten besucht sogenannte Pfingstkirchen, welche sich dem Christentum zuzählen und ihre Betonung auf die Stellung bzw. das Wirken des Heiligen Geistes betonen und missionarisch orientiert sind. Besonders auffällig für mich waren an diesen „Pfingstkirchen“ zunächst ihre Anzahl sowie ihr äußeres Erscheinungsbild. Allein auf den ca. 2km Fußweg von Ceilândia Centro bis zu unserem Projekt gibt es rund zehn solcher Kirchen („Assembleia de Deus“, „Jesus Cristo é o Senhor“, „O Reino de Deus“...), welche sich erheblich von dem sonstigen Erscheinungsbild der Satellitenstadt abheben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass neben einigen oftmals noch im Rohbau befindlichen Häusern ein redlicher Palast hervorragt, welcher wunderschön gestrichen, zumeist mit einer Heiligen Figur und zahlreichen Beleuchtungen versehen und eingezäunt, schon von weitem erkennbar ist. Einer dieser Paläste besitzt sogar einen riesigen künstlichen Wasserfall, der selbstverständlich auch während der Trockenzeit täglich sprudelte. Daneben sieht „unsere“ Kirche, ein ganz normales Haus, welches bestenfalls durch den erst kürzlich erneuerten Schriftzug Igreja Evangélica Luterana * (Evangelisch-Lutherische Kirche – entspricht der evangelischen in Deutschland bzw. stammt von dieser ab) zur Geltung kommt, tatsächlich recht unspektakulär aus. Obwohl „unsere Kirche“, unmittelbar gegenüber von unserem Projekt gelegen, auf dem Arbeitsweg vieler Kollegen liegt, ernten wir zumeist fragende Blicke, wenn wir erzählen, dass wir zur dortigen Jugendgruppe gehen. Wo diese Igreja Luterana denn sei und ob es dort ebenfalls Gottesdienst gäbe, sind nicht selten die Fragen, mit denen wir in diesem Zusammenhang konfrontiert werden.
Bisher habe ich, obwohl wir schon einige Male eingeladen wurden, noch keinem Gottesdienst in einer der zahlreichen Pfingstkirchen beigewohnt. Vorgenommen habe ich es mir allerdings, denn ich würde mir gerne ein eigenes Bild zu den unzähligen Eindrücken, die ich bereits durch mein Umfeld, Berichte und natürlich auch durch kurzes Zuschauen von außen (während der Gottesdienste oder anderer Worshipveranstaltungen sind die Türen auf Grund des Menschenandrangs meistens geöffnet) bekommen habe, machen. Obwohl ich natürlich vermeiden möchte, zu vorschnell zu Urteile und Schlüsse zu ziehen, ist es schlichtweg eine Tatsache, dass der Großteil dieser Kirchen seinen größtenteils sehr armen Mitgliedern das Geld förmlich „aus der Tasche zieht“. Nicht selten liegen die Beiträge bei ungefähr 10% des Gehalts, was bei einem Leben an der Armutsgrenze eine ganze Menge ist. Außerdem ist es besorgniserregend, wie wenig dort versucht (oder vielleicht sogar absichtlich darauf verzichtet) wird, das Weltliche mit dem Göttlichen zu verknüpfen. Bei vielen ist die hier so oft gebrauchte Redewendung „Se Deus quiser“ (Wenn Gott es will) vielmehr ein Trost und eine Erklärung für die missliche Lage. Viele Ungerechtigkeiten und Missstände werden damit gerechtfertigt, dass Gott es schon richten wird - eines Tages - und schlichtweg nicht weiter hinterfragt. Selbstverständlich kann man niemandem einen Vorwurf machen, denn wer jahrelang keine Unterstützung durch Sozialprogramme o.ä. erhalten hat, der setzt sein Vertrauen eben in andere Instanzen. Trotz allem ist es wirklich besorgniserregend, wie sehr (unter anderem) dadurch das politische Interesse, bzw. das Eintreten für die eigenen Rechte leidet.
Regelrecht geschockt hat mich das apolitische Verhalten selbst während bzw. vor allem in der Zeit vor den Wahlen. Viele Urteile/Meinungen wurden, wenn überhaupt, anhand der äußeren Erscheinung der Kandidaten oder anhand der Fülle der Wahlwerbung (in meinen Augen oftmals ohne jegliche Hinweise auf das eigentliche Wahlprogramm) gefällt. Sicherlich ist es in

diesem Zusammenhang allerdings nicht nur der Einfluss der Kirche, sondern ebenfalls die Schwierigkeit an handfeste Informationen zu gelangen, die dafür gesorgt haben und weiterhin sorgen, dass nur wenige politisch interessiert / aktiv sind.

Jetzt möchte ich noch kurz von unserem außergewöhnlichen, aufregenden und unvergesslichen Weihnachtsfest berichten.
24. Dezember – Heiligabendgottesdienst 19:30.
Tirza und ich wollten zumindest auf diesen weihnachtlichen Höhepunkt nicht verzichten und entschlossen uns daher, vor dem geplanten gemeinsamen Abendessen mit Elli, unserer Ansprechpartnerin „zu Hause im Casa da Esperança“, noch in den Gottesdienst zu fahren. Getreu der brasilianischen (es scheint mir gar allgemein gültigen aber unausgesprochenen) Handlungsnorm „Komme niemals zu früh“ fuhren wir um 19:00Uhr los. Normalerweise hätte das vollkommen ausgereicht um pünktlich anzukommen. Aber natürlich sollte es ausgerechnet Heilig Abend alles anders kommen. Obwohl eigentlich alle 5 Minuten ein Bus vor unserer Türe hält, mussten wir diesmal, auf Grund eines Unfalls, eine volle Stunde warten. Kaum ausgestiegen (und noch 20 Min Fußweg vor uns) fing es an zu regnen – in Strömen – wir rannten los.
Wir brauchten auch nur 10 Minuten, waren allerdings trotzdem bis auf die Knochen durchnässt. Immerhin kamen wir gerade noch rechtzeitig, um die letzten drei Lieder mitzusingen. Eine Bekannte beschloss kurzer Hand uns mit dem Auto nach Hause zu fahren, denn noch immer goss es in Strömen. Die Kirche stand selbstverständlich auch unter Wasser... Kurz nach der Abfahrt erklärte sie uns, dass das Auto bei Nässe nicht so recht funktioniere – die gut 40cm Wasser auf der Fahrbahn wurden uns daher schon kurz nach dieser Ansage zum Verhängnis: Das Auto ging aus. Wie immer bei Regen fiel natürlich auch der Strom aus und wir verbrachten gut 1 ½ unseres Heiligen Abends hoffend, betend und wartend in strömendem Regen (incl. eines kaputten Fensters...) und dunklen Straßen in einem alten Scirocco (der Gott sei Dank nach einigen „Pausen“ immer mal wieder ansprang).


Trotzdem war die Stimmung gut denn natürlich wussten wir alle, dass der „jeito brasileiro“ (der brasilianische Weg)** schon irgendeine Lösung parat hielte. Als wir dann gegen 11 Uhr endlich zu Hause ankamen, verbrachten wir den restlichen Abend in Jogginghose, Winterpullover (wie schön, dass wir ihn endlich nochmal tragen konnten!) gemeinsam mit Elli, die lecker gekocht hatte (ein Lob auf den Gasherd!) bei einem romantischen Candle-Light-Dinner im Flur. Leider kam unsere Bekannte in dieser Nacht nicht mehr mit ihrem Auto nach Hause. Sie mussten es stehen lassen und wurde abgeholt. Das Auto wurde zu allem Unglück aufgebrochen und ausgeraubt, der Täter allerdings geschnappt – so waren immerhin die persönlichen Unterlagen „gerettet“...
Was für eine Weihnachtsnacht!

Ich hoffe, dass ihr euch anhand der kleinen Auszüge meiner Eindrücke und bisherigen Erfahrungen ein Bild machen konntet, wie ich das Land, die Kultur und seine Menschen erlebe.

Selbstverständlich basiert dieser Rundbrief und meine darin vorgestellten Eindrücke lediglich auf meinen (sicherlich teilweise auch einseitigen / eindimensionalen) Erfahrungen, zeigt also „mein subjektives Bild“!

Bis Ende April verbleibe ich mit herzlichen Grüßen und vor allem einem großen DANKE für eure unverzichtbare Unterstützung,


Eure Lisa


*Die Igreja Luterana ist vor allem im Süden Brasiliens vertreten, wo sie von deutschen Einwanderern gegründet bzw. aus Deutschland „importiert“ wurde und wo auch heute noch die meisten Nachfahren deutscher Einwanderer leben
** egal, wie aussichtslos eine Situation auch erscheinen mag, der/die „BrasilianerIN“ steht der Sache grundsätzlich mit Optimismus bzw. der Einstellung „Sempre tem jeito“ (Es gibt immer einen Weg) entgegen – vorbildlich, wie ich finde :)