Donnerstag, 19. Mai 2011

Foto-Update

Ihr Lieben,

ich habe nicht viel Zeit, daher ein paar wild zusammengewürfelte fotografische Eindrücke...

































Sonntag, 1. Mai 2011

3. RUNDBRIEF

Liebe UnterstützerInnen,
liebe Freunde, lieber Leser
,

in weniger als 100 Tagen werde ich bereits wieder „deutschen Boden“ unter den Füßen haben, werde mein Zimmer nicht mehr mit Ameisen teilen, nicht jeden Tag Reis mit Bohnen essen, meinen Alltag wieder auf Deutsch anstatt Portugiesisch meistern und mich wohl oder übel wieder an feste Busfahrpläne gewöhnen müssen. Nur einige Beispiele, die mir auf Anhieb einfallen, wenn ich darüber nachdenke, dass bereits ¾ meines FFDs vergangen sind und ich schon bald wieder Richtung Heimat aufbrechen werde.

In diesem dritten Rundbrief ist die Themenwahl mir überlassen. Es wird daher hauptsächlich um meine derzeitige Arbeit im Projekt gehen, denn zum einen hat sich einiges geändert und zum anderen ist es einer der größten Bestandteile meines Alltags, über den ich bisher nur sporadisch berichtet habe.

Die gesamten ersten sechs Monate verbrachten meine Mitfreiwillige Tirza und ich in der sogenannten Creche - dem Kindergarten - jede von uns in einer Horde von 1-3jährigen Kindern. Zwar hat uns die Arbeit mit den „Kleinen“ gut gefallen, da in unserem Projekt jedoch Kinder und Jugendliche bis 16 Jahre betreut werden und wir zu Beginn des Jahres abgemacht hatten, während des Jahres mit allen Altersklassen zu arbeiten, konnten wir im Januar, nach einigen Diskussionen, unseren Arbeitsalltag komplett neu gestalten.

Auf Grund einiger Umstrukturierungen und einer großer Fluktuationsrate der MitarbeiterInnen stellte sich heraus, dass zu Beginn des neuen „Schuljahres“ (Ende Januar) unter anderem der Musiklehrer das Projekt verlassen hatte. Da Tirza und ich ohnehin schon länger angefragt hatten, in seinem Kurs zu assistieren, war für uns direkt klar, dass wir diesen übernehmen wollen würden. Es war zunächst etwas schwierig, unseren Chef davon zu überzeugen, dass wir in der Lage seien den Kurs alleine zu übernehmen. Aber abgesehen von der Tatsache, dass ohnehin kein neuer Musiklehrer in Aussicht war trug vor allem unser ständiges Nachfragen, sprich unsere Hartnäckigkeit dazu bei, dass wir den Kurs übernehmen konnten. Gerade als sich also dieses angenehme „Wir haben es geschafft, es kann los gehen“ -Gefühl ausbreitete, erinnerten uns elf saitenlose und zum Teil völlig auseinandergenommene Gitarren daran, dass es eben nicht losgehen konnte… Zwei kurzfristige Spenden aus meiner Familie/ meinem Bekanntenkreis schafften die finanzielle Basis; am nächsten Tag zogen wir los und kauften Unmengen an Saiten und anderem Zubehör für die Gitarren bzw. das, was von ihnen übrig war. Nach zwei Tagen Schrauben, Hämmern und Saiten aufspannen hatten wir es geschafft: zehn Gitarren waren vollständig repariert & einsatzbereit!


Tirza, die allerdings Flötenunterricht geben wollte, sah sich zunächst mit dem Problem konfrontiert, keine Instrumente zur Verfügung zu haben. Beeindruckt davon, dass wir es tatsächlich so schnell geschafft hatten, die Gitarren auf Vordermann zu bringen, beschloss die Projektleitung daraufhin glücklicherweise einige quietsch bunte Plastikflöten zu kaufen – welch ein Glück!

Mitte Februar ging es dann endgültig los: 2x die Woche zwei Gruppen, oder auch: jeweils 10-15 Kinder und Jugendliche zwischen 8 und 13 Jahren, die zum Teil noch nie eine Gitarre/Flöte gesehen hatten… Es versprach also interessant zu werden. Seitdem geben wir jeden Dienstag und Donnerstag Musikunterricht. Da die Gruppen sowohl alters- als auch lernstufentechnisch absolut durchmischt sind, haben wir Konzentrations- und Rhytmusspiele zu einem festen Bestandteil unseres Unterrichts gemacht. Jeweils in den letzten 15 Minuten einer Stunde wird gemeinsam ein Spiel gespielt. Anfangs wurden diese Spiele eher kritisch beäugt (wie so oft, wenn wir etwas „Unbekanntes“ mitbringen), doch mittlerweile sind sie schon echte „Klassiker“ und sorgen jedes Mal für große Begeisterung!




An den verbleibenden drei Tagen helfen wir im
sogenannten „Cidadania“ (wörtl. Staatsbürgerschaft) Kurs, einer Art SoWi- / Gesellschaftskundeunterricht. Meistens werden Texte zu verschiedenen Themen
( (sexuelle) Gewalt, Kinder- und Jugendrechte, Indigene Bevölkerung, andere Länder etc.) gelesen und anschließend in der Gruppe besprochen. Die entsprechende Lehrkraft hat uns gegenüber schon mehrfach geäußert, dass sie kein Interesse hat, mit dieser Altersklasse
(ebenfalls Kinder und Jugendliche zwischen 8-13 Jahren) zu arbeiten und gegen ihren Willen dort eingesetzt wurde - schade! Auf der anderen Seite jedoch Glück im Unglück, da sie froh um unsere Hilfe ist und uns den Unterricht oftmals auch übernehmen lässt. Wir haben demnach ziemlich viele Freiheiten was die Gestaltung der Stunden angeht, da zumeist nur ein grobes Thema vorgegeben ist. Nach dem „Cidadania“ Kurs sind wir sehr oft Draußen und spielen mit der Sportgruppe (oder oftmals auch mit Kindern, deren Kurse ausfallen) Volleyball, Indiaca oder andere Teamsportarten/ Gruppenspiele. Bis auf diese fest abgesprochenen Bestandteile unserer Arbeit gestalten wir unsere Tage ansonsten weitestgehend selbstständig und vor allem spontan, da häufig LehrerInnen fehlen, deren Kurse wir dann übernehmen. Unser Aufgabenbereich hat sich also explosionsartig erweitert, was ich als große Chance empfinde, da wir so unsere eigenen Ideen mit einbringen bzw. umsetzen können. So gehen wir dreimal die Woche ins „Criança Feliz“ (wörtl. Glückliches Kind), eine Art Vorschule für die 3-6jährigen Kinder, und singen mit jeweils 2-4 Gruppen brasilianische (und manchmal auch die ein oder anderen deutschen) Kinderlieder.
Außerdem haben wir herausgefunden, dass es (zumindest auf dem Papier) eine Art Schülerzeitung gibt. Abgesehen davon, dass diese mit 5 Mitgliedern auch relativ knapp besetzt ist, fehlt es vor allem an einem verantwortlichen Mentor, denn der „Zeitungsvorstand“ ist zarte 14 Jahre alt und mit der Anleitung der restlichen Gruppe absolut überfordert. Auch bei diesem „Projekt“ werden wir also in Zukunft mithelfen können – wir sind gespannt!
Jetzt habe ich zwar schon einiges erzählt, merke aber, dass es gar nicht so einfach ist, unseren neuen „Arbeitsalltag“ in Worte zu fassen, da er zum einen so vielfältig ist und sich zudem Tag für Tag erweitert. Fest steht, dass uns die Arbeit mit den älteren Kindern und Jugendlichen sehr viel Spaß macht, da wir jetzt viel mehr Verantwortung und Handlungsfreiheit haben als in der Creche. Trotzdem ist die Situation insgesamt gesehen etwas schwierig, da es nach wie vor an einem festen Ansprechpartner fehlt. Weiterhin bestehende finanzielle Probleme haben zum einen dafür gesorgt, dass ein großer Teil von (teils langjährigen) MitarbeiterInnen das Projekt verlassen hat, und sind zum anderen Grund dafür, dass wir als Freiwillige noch weniger „gesehen werden“ als vorher.
Wenn wir Fragen oder Gesprächsbedarf haben, werden wir oftmals von „A nach B“ verwiesen, da sich niemand für uns zuständig fühlt. Zwar ist es verständlich, dass auf Grund schwerwiegender anderer Probleme nicht viel Zeit für Gespräche oder Auseinandersetzungen mit uns als Freiwilligen bleibt, jedoch finde ich den generellen Mangel an Interesse fragwürdig. Dass wir zum Beispiel die Gitarren repariert haben, wurde zwar begrüßt, allerdings hat bis heute niemand gefragt, wie der Kurs eigentlich läuft, oder woher überhaupt das Geld für die Saiten etc. kam. Seitens einiger MitarbeiterInnen wird ab und an Kritik an unserer Arbeit geäußert, da unsere Umgangsweise mit den Kindern und Jugendlichen sich stark von der der anderen LehrerInnen unterscheidet. Unter anderem auf Grund des geringen Altersunterschieds zu den Jugendlichen aber auch schlichtweg, weil wir aus unserer Schulzeit oder vorhergehenden Aktivitäten in Jugendgruppen eine andere Vorgehensweise kennen, ist unser Verhältnis zu den Jugendlichen oftmals eher freundschaftlich.



Anfangs fand ich es schwierig mit dieser Kritik angemessen umzugehen, vor allem, weil diese uns gegenüber nie direkt geäußert wurde bzw. nicht im Gespräch mit uns sondern „hinter unserem Rücken“. Mittlerweile haben wir uns, wie man so schön sagt, „damit abgefunden“ bzw. für uns persönlich herausgefunden, dass es uns wichtiger ist, ein gutes Verhältnis zu den Kindern und Jugendlichen zu haben, als uns in allen Punkten den MitarbeiterInnen anzugleichen. Begünstigt wurde diese Einsicht dadurch, dass, vor allem seitdem so viele langjährige MitarbeiterInnen das Projekt verlassen haben, es auch zwischen den anderen KollegInnen sehr häufig Konflikte gibt und man sich innerhalb der Mitarbeiterschaft, sicherlich auch auf Grund der enormen Größe des Projekts (s.1.Rundbrief), nicht als eine Einheit versteht.





So kann ich also nach diesen 9 Monaten hier in Ceilândia durchaus behaupten, das ein oder anderen Mal an mir gezweifelt zu haben, mich gefragt zu haben, was ich hier eigentliche mache, die hiesige Kultur manches Mal als absolut verschieden und ein anderes Mal als sehr ähnlich empfunden zu haben, sie mir in manchen Punkten unbegreiflich erscheint und mich an anderer Stelle schlichtweg fasziniert. Trotz allem oder vielleicht auch gerade deswegen hatte ich bisher eine spannende, aufregende, anstrengende, einzigartige, unvergessliche und - ihr habt es sicherlich schon bemerkt - unbeschreibliche Zeit!
Ich freue mich zwar schon jetzt wieder nach Hause ins Bergische Land zu kommen, euch alle wiederzusehen, zu jeder Uhrzeit auf die Straße gehen zu können, Fahrrad zu fahren, zu Studieren etc. und dennoch wird „ein Stück Lisa“ in dieser hässlichen, brasilianischen Satellitenstadt Ceilândia, im „Cantinho do Girassol“ und vor allem bei den Kindern und Jugendlichen bleiben.

Vielen Dank für eure wertvolle Unterstützung, aufmunternde Worte, Kritik sowie die spontanen Spenden für unser Musikprojekt 

eure Lisa

Sonntag, 13. Februar 2011

2. Rundbrief

Liebe UnterstützerInnen, liebe Freunde,
liebe Interessierte,

tatsächlich, drei weitere Monate sind um, d.h. zum einen Halbzeit in Brasilien und zum anderen: mein zweiter Rundbrief steht an. Etwas verspätet soll es diesmal um das Land, die Kultur, Politik und Religion gehen. Gar nicht so einfach das alles auf vier Seiten zu behandeln. Trotzdem oder vielmehr gerade deswegen werde ich versuchen euch anhand einiger Beispiele und meinen bisherigen Erfahrungen einen Überblick bzw. einige Einblicke in „mein brasilianisches Leben“ zu geben.

Brasilien: 8.5 Mio. km² (das 24-fache! Deutschlands), größtes südamerikanisches Land, 26 Bundesstaaten (plus Distrito Federal) und 191 Mio. „brasileiros“. Bereits diese groben Rahmendaten lassen die Vielfältigkeit des Landes erahnen. Sicherlich kommen diese Zahlen einigen von euch bereits bekannt vor und auch ich hatte sie mir natürlich schon vor meinem Auslandsjahr verinnerlicht. Greifbar wurden sie allerdings erst im Verlauf der letzten sechs Monate.
Ich kann mich in Brasília in einen Bus setzen und egal in welche Richtung ich 24 Stunden lang fahre – ich bin noch immer in Brasilien. Auch wenn die Lebensweise, die Landschaft oder die Mentalität der Menschen in Salvador, Rio de Janeiro oder Porto Alegre sich in vielen Punkten massiv von der Brasílias unterscheiden, trifft man doch immer auf „brasileiros“, verständigt sich (gestenreich) auf Portugiesisch und bekommt auch überall „arroz e feijão“ (Reis mit Bohnen).
Kurzum: trotz der unbegreiflichen Größe, der einzigartigen kulturellen und geografischen Vielfalt, gibt es gewisse „typisch brasilianische“ Aspekte, welche sich einfach nicht von der Hand weisen lassen.


„E aí – tudo bem???“
Es fängt bei Banalitäten, wie zum Beispiel der Begrüßung an. Egal, wo in Brasilien ich mich bisher aufgehalten habe, ob Satelliten- oder Hauptstadt, ob Nord ob Süd – für eine Begrüßung nimmt sich jeder „brasileiro“ und jede „brasileira“ Zeit.
Man erkundigt sich, unabhängig davon ob man sich schon lange kennt oder gerade zum ersten Mal miteinander spricht, grundsätzlich als erstes nach dem Wohlergehen des Gegenübers.
Was mir zunächst als außergewöhnlich höflich auffiel (wie oft erkundigen wir uns denn in Deutschland bei einem hektischen Einkauf nach dem Wohlergehen des Kassierers?) erscheint mir mittlerweile eher ziemlich oberflächlich. Natürlich habe ich mich bereits daran gewöhnt, so gut wie jeden, dem ich auf der Arbeit begegne das obligatorische „Tudo bem?“ (Alles klar?) zu fragen. Allerdings ist die Antwort, so scheint es mir, ebenfalls obligatorisch, unzwar „Tudo“ (Alles!). Obwohl oftmals noch weitere Fragen wie „Tá joia? / Beleza?“ ( wörtl. „Ist es eine Freude? / Schönheit?“ ≈ „Alles klar?“) folgen, besteht die Antwort zu 99% in einer positiven Bejahung – unabhängig von der eigentlichen Verfassung. Trotzdem möchte ich an dieser Stelle aber nicht vorschnell (ver)urteilen, denn besser als keine Begrüßung ist dieses brasilianische Ritual ja allemal. (Außerdem schließt es desweiteren ja eine ehrlliche bzw. ausführlichere Antwort unter Freunden nicht aus...).

Einkaufen auf brasilianisch
Den in Deutschland zumeist ungeliebten Einkauf, empfinde ich hier in Brasilien oftmals als eine besondere Form der Unterhaltung. Bereits beim Eintreten in einen brasilianischen Supermarkt, fällt mir als Europäerin die Fülle der angestellten Arbeitskräfte auf. Ist man es doch aus Deutschland gewohnt, dass man ausgerechnet dann, wenn man mal die Hilfe eines Mitarbeiters in Anspruch nehmen möchte, erst einmal sämtliche Regalreihen durchstreifen muss, um einen aufzutun, kann man sich hier vor Angestellten kaum retten.
Beschäftigt scheinen neben den Kassierern selbst jedoch lediglich jene zu sein, die an der Kasse als „Verpacker“ tätig sind und scheinbar nach der Anzahl der verbrauchten Tüten bezahlt werden. So kommt es nicht selten vor, dass ich den Supermarkt mit 10 Tüten verlasse, in die jeweils maximal zwei Artikel eingetütet sind.
Diejenigen, die nicht in den Genuss kommen, den Kunden nach seinem Einkauf unzählige Tüten in die Hand zu drücken, versuchen meist, die zum Verkauf stehende Ware per Mikrofon oder auch im persönlichen Gespräch anzupreisen. So bin ich zwar auch nach dem „brasilianischen Einkauf“ wieder froh, zu Hause anzukommen, verlasse den Supermarkt jedoch zumeist mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Vamos almoçar“ (Lass uns Mittagessen gehen) oder auch: Es gibt Reis mit Bohnen
Wenn mich so fast täglich einer meiner Kollegen auffordert die Mittagspause gemeinsam mit dem Essen einzuläuten, sieht das Ganze etwas anders aus, als man es aus Deutschland gewohnt ist. Im Mittelpunkt steht weder die Frage, was es wohl heute geben mag, noch, ob es denn wohl schon wieder das Gleiche wie gestern geben könnte – nein, denn jeder weiß: Es gibt arroz e feijão (Reis und Bohnen) – UND, das muss man fairerweise sagen, an und an auch mal Fleisch uns fast immer Salat. Viel erstaunlicher als die Tatsache, dass es in den sechs Monaten in denen ich hier bin (und mit Sicherheit auch in denen davor (und auch in denen davor...)) bisher jeden Tag arroz e feijão gab, ist es, dass sich niemals darüber beschwert wird. Im Gegenteil: JEDER freut sich auf das Mittagessen. Man(n) ist hierzulande sogar eher froh darüber, dass es nichts anderes gibt. Wenn Tirza oder ich immer mal wieder auf die deutschen Essgewohnheiten/ typische Gerichte angesprochen werden, löst es oft Erschrecken aus, wenn wir verkünden, dass es das hiesige Nationalgericht im Grunde (zumindest in dieser Form) nicht gibt und es noch dazu kein anderes Gericht gibt, welches täglich serviert wird. Glücklicherweise sind Reis und Bohnen hier auch mit Abstand die preiswertesten Lebensmittel, sodass zumeist auch relativ armen Familien immerhin dieser „Luxus“ erhalten bleibt.

„Glaubst du an Gott?“
Mit jener Frage, welche in Deutschland eher Inhalt eines persönlichen Gesprächs wäre, wurde ich bereits an meinem zweiten Arbeitstag konfrontiert. Glaube hat hier einen völlig anderen (gesellschaftlichen) Stellenwert als ich es von zu Hause/aus Deutschland kenne. Zwar bleibt die Ausübung und die Wahl der Kirche (natürlich bzw. Gott sei Dank) jedem selbst überlassen, dennoch möchte ich schon fast sagen, dass es hier ein Stigma ist, nicht gläubig zu sein / nicht irgendeiner Kirche anzugehören. Der Großteil meiner Mitarbeiter und Bekannten besucht sogenannte Pfingstkirchen, welche sich dem Christentum zuzählen und ihre Betonung auf die Stellung bzw. das Wirken des Heiligen Geistes betonen und missionarisch orientiert sind. Besonders auffällig für mich waren an diesen „Pfingstkirchen“ zunächst ihre Anzahl sowie ihr äußeres Erscheinungsbild. Allein auf den ca. 2km Fußweg von Ceilândia Centro bis zu unserem Projekt gibt es rund zehn solcher Kirchen („Assembleia de Deus“, „Jesus Cristo é o Senhor“, „O Reino de Deus“...), welche sich erheblich von dem sonstigen Erscheinungsbild der Satellitenstadt abheben. Es ist nicht ungewöhnlich, dass neben einigen oftmals noch im Rohbau befindlichen Häusern ein redlicher Palast hervorragt, welcher wunderschön gestrichen, zumeist mit einer Heiligen Figur und zahlreichen Beleuchtungen versehen und eingezäunt, schon von weitem erkennbar ist. Einer dieser Paläste besitzt sogar einen riesigen künstlichen Wasserfall, der selbstverständlich auch während der Trockenzeit täglich sprudelte. Daneben sieht „unsere“ Kirche, ein ganz normales Haus, welches bestenfalls durch den erst kürzlich erneuerten Schriftzug Igreja Evangélica Luterana * (Evangelisch-Lutherische Kirche – entspricht der evangelischen in Deutschland bzw. stammt von dieser ab) zur Geltung kommt, tatsächlich recht unspektakulär aus. Obwohl „unsere Kirche“, unmittelbar gegenüber von unserem Projekt gelegen, auf dem Arbeitsweg vieler Kollegen liegt, ernten wir zumeist fragende Blicke, wenn wir erzählen, dass wir zur dortigen Jugendgruppe gehen. Wo diese Igreja Luterana denn sei und ob es dort ebenfalls Gottesdienst gäbe, sind nicht selten die Fragen, mit denen wir in diesem Zusammenhang konfrontiert werden.
Bisher habe ich, obwohl wir schon einige Male eingeladen wurden, noch keinem Gottesdienst in einer der zahlreichen Pfingstkirchen beigewohnt. Vorgenommen habe ich es mir allerdings, denn ich würde mir gerne ein eigenes Bild zu den unzähligen Eindrücken, die ich bereits durch mein Umfeld, Berichte und natürlich auch durch kurzes Zuschauen von außen (während der Gottesdienste oder anderer Worshipveranstaltungen sind die Türen auf Grund des Menschenandrangs meistens geöffnet) bekommen habe, machen. Obwohl ich natürlich vermeiden möchte, zu vorschnell zu Urteile und Schlüsse zu ziehen, ist es schlichtweg eine Tatsache, dass der Großteil dieser Kirchen seinen größtenteils sehr armen Mitgliedern das Geld förmlich „aus der Tasche zieht“. Nicht selten liegen die Beiträge bei ungefähr 10% des Gehalts, was bei einem Leben an der Armutsgrenze eine ganze Menge ist. Außerdem ist es besorgniserregend, wie wenig dort versucht (oder vielleicht sogar absichtlich darauf verzichtet) wird, das Weltliche mit dem Göttlichen zu verknüpfen. Bei vielen ist die hier so oft gebrauchte Redewendung „Se Deus quiser“ (Wenn Gott es will) vielmehr ein Trost und eine Erklärung für die missliche Lage. Viele Ungerechtigkeiten und Missstände werden damit gerechtfertigt, dass Gott es schon richten wird - eines Tages - und schlichtweg nicht weiter hinterfragt. Selbstverständlich kann man niemandem einen Vorwurf machen, denn wer jahrelang keine Unterstützung durch Sozialprogramme o.ä. erhalten hat, der setzt sein Vertrauen eben in andere Instanzen. Trotz allem ist es wirklich besorgniserregend, wie sehr (unter anderem) dadurch das politische Interesse, bzw. das Eintreten für die eigenen Rechte leidet.
Regelrecht geschockt hat mich das apolitische Verhalten selbst während bzw. vor allem in der Zeit vor den Wahlen. Viele Urteile/Meinungen wurden, wenn überhaupt, anhand der äußeren Erscheinung der Kandidaten oder anhand der Fülle der Wahlwerbung (in meinen Augen oftmals ohne jegliche Hinweise auf das eigentliche Wahlprogramm) gefällt. Sicherlich ist es in

diesem Zusammenhang allerdings nicht nur der Einfluss der Kirche, sondern ebenfalls die Schwierigkeit an handfeste Informationen zu gelangen, die dafür gesorgt haben und weiterhin sorgen, dass nur wenige politisch interessiert / aktiv sind.

Jetzt möchte ich noch kurz von unserem außergewöhnlichen, aufregenden und unvergesslichen Weihnachtsfest berichten.
24. Dezember – Heiligabendgottesdienst 19:30.
Tirza und ich wollten zumindest auf diesen weihnachtlichen Höhepunkt nicht verzichten und entschlossen uns daher, vor dem geplanten gemeinsamen Abendessen mit Elli, unserer Ansprechpartnerin „zu Hause im Casa da Esperança“, noch in den Gottesdienst zu fahren. Getreu der brasilianischen (es scheint mir gar allgemein gültigen aber unausgesprochenen) Handlungsnorm „Komme niemals zu früh“ fuhren wir um 19:00Uhr los. Normalerweise hätte das vollkommen ausgereicht um pünktlich anzukommen. Aber natürlich sollte es ausgerechnet Heilig Abend alles anders kommen. Obwohl eigentlich alle 5 Minuten ein Bus vor unserer Türe hält, mussten wir diesmal, auf Grund eines Unfalls, eine volle Stunde warten. Kaum ausgestiegen (und noch 20 Min Fußweg vor uns) fing es an zu regnen – in Strömen – wir rannten los.
Wir brauchten auch nur 10 Minuten, waren allerdings trotzdem bis auf die Knochen durchnässt. Immerhin kamen wir gerade noch rechtzeitig, um die letzten drei Lieder mitzusingen. Eine Bekannte beschloss kurzer Hand uns mit dem Auto nach Hause zu fahren, denn noch immer goss es in Strömen. Die Kirche stand selbstverständlich auch unter Wasser... Kurz nach der Abfahrt erklärte sie uns, dass das Auto bei Nässe nicht so recht funktioniere – die gut 40cm Wasser auf der Fahrbahn wurden uns daher schon kurz nach dieser Ansage zum Verhängnis: Das Auto ging aus. Wie immer bei Regen fiel natürlich auch der Strom aus und wir verbrachten gut 1 ½ unseres Heiligen Abends hoffend, betend und wartend in strömendem Regen (incl. eines kaputten Fensters...) und dunklen Straßen in einem alten Scirocco (der Gott sei Dank nach einigen „Pausen“ immer mal wieder ansprang).


Trotzdem war die Stimmung gut denn natürlich wussten wir alle, dass der „jeito brasileiro“ (der brasilianische Weg)** schon irgendeine Lösung parat hielte. Als wir dann gegen 11 Uhr endlich zu Hause ankamen, verbrachten wir den restlichen Abend in Jogginghose, Winterpullover (wie schön, dass wir ihn endlich nochmal tragen konnten!) gemeinsam mit Elli, die lecker gekocht hatte (ein Lob auf den Gasherd!) bei einem romantischen Candle-Light-Dinner im Flur. Leider kam unsere Bekannte in dieser Nacht nicht mehr mit ihrem Auto nach Hause. Sie mussten es stehen lassen und wurde abgeholt. Das Auto wurde zu allem Unglück aufgebrochen und ausgeraubt, der Täter allerdings geschnappt – so waren immerhin die persönlichen Unterlagen „gerettet“...
Was für eine Weihnachtsnacht!

Ich hoffe, dass ihr euch anhand der kleinen Auszüge meiner Eindrücke und bisherigen Erfahrungen ein Bild machen konntet, wie ich das Land, die Kultur und seine Menschen erlebe.

Selbstverständlich basiert dieser Rundbrief und meine darin vorgestellten Eindrücke lediglich auf meinen (sicherlich teilweise auch einseitigen / eindimensionalen) Erfahrungen, zeigt also „mein subjektives Bild“!

Bis Ende April verbleibe ich mit herzlichen Grüßen und vor allem einem großen DANKE für eure unverzichtbare Unterstützung,


Eure Lisa


*Die Igreja Luterana ist vor allem im Süden Brasiliens vertreten, wo sie von deutschen Einwanderern gegründet bzw. aus Deutschland „importiert“ wurde und wo auch heute noch die meisten Nachfahren deutscher Einwanderer leben
** egal, wie aussichtslos eine Situation auch erscheinen mag, der/die „BrasilianerIN“ steht der Sache grundsätzlich mit Optimismus bzw. der Einstellung „Sempre tem jeito“ (Es gibt immer einen Weg) entgegen – vorbildlich, wie ich finde :)